Errata

Objekt

2004

Seile, Taue, Stricke

”Oh Zeit! Sie muß entwirren dies, nicht ich;
Es ist zu schwer für mich, den Knoten hier zu lösen.”
(
Shakespeare ”Die zwölfte Nacht” bzw. ”Was ihr wollt”)

In der phrygischen Hauptstadt Gordion (heute Ausgrabungsstätte 80 km südwestlich von Ankara) wurde ein dem Zeus geweihter Streitwagen des König Midas aufbewahrt. Seine Deichsel war mit einem sehr komplizierten Knoten an dem Fahrzeug befestigt. Wem es gelänge diesen Knoten zu lösen, dem wurde laut einem Orakelspruch die Herrschaft über Asien versprochen. Als Alexander der Große auf seinem Zug gegen Persien (334-333 v. Chr.) nach Gordion kam, wollte er sich diese Zusage und, wie es ja seiner Absicht entsprach, damit auch mythologisch Asien aneignene. Doch es war auch ihm unmöglich, den kunstvoll verschlungenen Knoten aufzulösen. Mit einer Rücksichtslosigkeit und Brutalität die wohl allen Eroberern eigen zu sein scheint, durchschlug er den Knoten einfach mit seinem Schwert. Dieser nicht an tatsächlicher Lösung interessierte Umgang mit Hindernissen die dem menschlichen Wollen entgegentreten, gilt seither als Vorbild für eine rasche, entschiedene und unkonventionelle Erledigung eines komplizierten Problems. Was der - immerhin von Aristoteles persönlich erzogene - Eroberer und alle seine Nacheifrer dabei übersehen, war und ist die Tatsache, dass das Lösen von Knoten und Problemen keine athletische und waffenbasierte Leistung ist, sondern vorzüglich eine geistige Unternehmung. Dies setzt eine Bereitschaft zur Vertiefung einer Sache, zu Vorsichtigkeit und zu demütiger Geduld angesichts der wunderbaren Komplexität der Schöpfung und der sozialen Welt voraus. Dass Alexander zwar weit kam, aber niemals eine (erst recht nicht gedeihliche) Herrschaft über Asien ausübte, zeigt, das er die richtige Lösung eben doch nicht gefunden hatte. Die alexandrinische Art des Umgangs mit Problemen oder Aufgaben scheint leider noch immer diejenige zu sein, welche die Menschheit gern anwendet: Mit Gewalttaten schnell zum vermeintlichen Ziel gelangen. In den ‘allerältesten Zeiten’, wie das chinesische I-Ging überliefert, wurden die Menschen durch ein ‘System von Knoten’  regiert. Man könnte den Gedanken vorbringen, dass Alexander, als hervorstechender Protagonist der neuen, westlichen (?) Weltaneignung, dieses alte, feinsinnig abgewogene System des Lebens vorbildlich zerschlagen hat. Für die irischen Buchmaler war der endlose Knoten ein Ausdruck der Grenzenlosigkeit Gottes und der unendlichen Vielfalt seiner Schöpfung.

Den Knoten wieder herzustellen, das feine, kunstvolle Gebilde der ursprünglichen, geschaffenen Harmonie wieder in seine ursprüngliche Form zu bringen ist ein Wunsch - von frühester daoistischer Philosophie über das Tikkun Olam (Wiederherstellung der Welt) bis zu zeitgenössischen Konzepten des Healing - die Idee des Paradieses nicht aufzugeben. Die Hilflosigkeit und das Unvermögen das ursprünglichen Geflecht, den kunstvollen Knoten wieder zu flechten, davon zeugt dieses Objekt.