Der unbehauene Holzklotz

fotografische Sammlung

seit 2015

Wenn die Gestaltung beginnt, dann erst gibt es Namen.
(Laotse, Tao Te King, 32 / R. Wilhelm)

In Übersetzungen des taoistischen Werkes Daodesching von Meister Lao taucht ein Begriff auf, der u.a. mit “unbehauener Holzklotz” übertragen wird (Knospe und Brändli, 1985). Diese Metapher zielt auf eine zwar konzentriete, alle Potenzen in sich tragende, aber noch ungestörte Ruhe ab, auf ein absichtsloses Sein, ein noch nicht entfalltetes Begehren. Diese Eigenschaft wird auch den alten Meistern angedichtet. Diese Rede wünscht Zurückhaltung vom Eingriff, einen Willen, der sich nicht in irdisch-materieller Hast und Zielgerichtetheit verfängt. Denn: In der Realisierung einer Idee zeigt sich zugleich die Reduzierung der Potenz auf ein einzelnes Wollen, auf ein festgestelltes und vergängliches Moment. Der Holzklotz, welcher kein Baum mehr ist, befindet sich nicht mehr im Ganzen der Natur. Aber, wie es im Taoismus heißt, noch immer im Weg des "Himmels". Er ist still und die Welt hat Ruhe. Er ist kein fertiges, in Form gebrachtes, sich selbst meinendes, platzheischendes Ding. Er ist abgetrennt und dadurch wahrnehmbar, aber noch unbehauen und unbeschrieben, sichtbar, aber noch im freien Zustand - wie ein kleines Kind.

Wie sind die hölzernen Klötze, an die man dabei denken könnte oder denken müsste, beschaffen? Wie sehen die konkreten Vertreter dieser Metapher aus? Mit einer fortlaufenden Sammlung richte ich einen Blick auf die unzähligen, tatsächlich existierenden Holzklötze, die überall im Weltzusammenhang ihr Dasein fristen und die durch den hier unternommenen, animierenden Blick selbst Individuen zu werden scheinen. Aus dieser Betrachtung, die ich selbst wiederum als Metapher einsetze, entsteht vielleicht eine Umkehrung, bei der es darum gehen könnte, rückübersetzt, das konkrete menschliche Leben zu betrachten, welches von hohen Sinnbildern geleitet werden möchte oder, und das ist wohl realistischer, an ihnen zu oft scheitert und ähnlich zugerichtet wirkt wie die hilflosen und vergehenden Klötze selbst.