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ohne Titel (Frühling und Herbst)

Auf meinen Wanderungen durch Beijing im Sommer 2015, sah ich, im leichten Gehen begriffen,

plötzlich wundersame Gemälde auf den Oberflächen der Stadt: Berge und Ebenen, hügelige Weiten im Frühlingsregen, Mondnächte und Schnee auf fernen Gebirgen. Diese „Geisterbilder" stammten nicht von Menschenhand, sondern waren das Ergebnis von Ausblühungen (Effloreszenz: Auskristallisieren von Salzen) auf Mauern und Gebäuden. Aber auch korrodierte Metalloberflächen, Blechzäune und Platten zeigten „Anmutungen", in denen mir jene Eigenart der chinesischen Malerei erschien.

 

Die Assoziation zu Landschaften entsprang Betrachtungen der alten chinesischen Landschaftsmalerei,

die sich teilweise einer abstrahierten Abbildungsweise und einer Oszillation zwischen Erscheinen und Nichterscheinen hingibt. Diese Bildwelten auf den Wänden habe ich fotografisch festgehalten, auf Reispapier gedruckt und auf Seidenrollen befestigen lassen, ganz im traditionellen Stil der chinesischen Landschaftsmalerei. Die Montage auf die Rollen wurde von der Familie Kwok in Peking vorgenommen, die, als eine der wenigen verbliebenen Werkstätten, die traditionelle und langwierige Technik dafür anwendet.

 

Der Arbeitstitel bezieht sich u.a. frei auf die sogenannten Frühlings- und Herbstannalen, einer der 5 Klassiker, die dem Konfuzius zugeschrieben werden. Man meint, wenn man diesem Titel leichtfertigt folgt, einem harmonischen Verlauf des Jahres, der Zeit und des Lebens zu begegnen. Aber das Gegenteil ist der Fall, jedenfalls für diejenigen, die das Geschehen aus geschichtsphilosophischer Perspektive betrachteten und betrachten. In der Zeit dieser Annalen kam es zu Umstürzen, Verwerfungen und einer Neuordnung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Produktionsmethoden, Sozialordnung und Eigentumsverhältnisse änderten sich auf einschneidende Weise. Man begann, in der Landwirtschaft und im Handwerk mit eisernen Geräten zu arbeiten. Der von Tieren gezogene Pflug kam in Gebrauch und ermöglichte eine intensivere Nutzung des Bodens sowie die Urbarmachung von größeren Flächen. Die Eroberung bisher unberührter Natur, die in der späteren Malerei für geistige und irdische Harmonie steht, setzte ein. Es kam zu einem sprunghaften Wachstum der Produktion, zur Spezialisierung im Handwerk und dadurch zu einem noch nie dagewesenen Reichtum. Damit erodierte aber zugleich die alte Gentilordnung und die Königsherrschaft. Gemeingrund, bzw. Königsgrund ging allmählich in privaten Besitz über. Im 6 Jh.v.Chr. beginnt daraufhin die Einzelbewirtschaftung der Felder und es kommt zur Besteuerung der Eigentümer und Bauern, die jetzt nicht mehr gemeinsam den Acker bearbeiten.

Dies alles ging einher mit der Bildung einer nichtadligen Oberschicht und einer Zersetzung der alten Sippengemeinschaften. Einige, besonders die taoistischen Texte aus dieser und der folgenden Zeit beklagen den Verlust der alten Ordnung, das Verschwinden der Einfachheit der Menschen, des freien und natürlichen Lebens und das Aufkommen von „Maschinenherzen".

 

Der reiche Kaufmann, Politiker und Philosoph Lü Buwei, der es den Adeligen nachtat und Gelehrte in seinem grossen Hof versammelte und aushielt, ließ sich von diesen die wohl erste Enzyklopädie der Welt anfertigen. Sie erschien um 240 v. Chr. und benutzt selbstbewußt den Titel der berühmten Frühlings- und Herbstannalen. Die Welt wird geordnet, gezähmt und in Besitz genommen. Dieser Übergang, der die Herausbildung des Feudalismus markiert, führt offenbar bei den Gelehrten zu einer erstmaligen Verschriftlichung der Reflexion über ein Vorher-Nachher, über Gut-Schlecht, über Harmonie-Chaos.

Diese Bewegungen und die Zersplitterung des alten Reiches führten dazu, dass sich verschiedene Schulen (Moral- und Staatslehren) bildeten, zu deren bekanntesten die des Laotze, des Dschangtze und des Kungtze gehören.

In den Künsten und der Literatur bildet sich, offenbar im Anschluss an diese Erfahrungen, die bis heute bestehende Betonung, ja Beschwörung des guten, reinen, harmonischen Zustandes einer unendlichen und erhabenen Natur, in welcher der kaum sichtbare Mensch, eingebettet in diese und in den Sinn des Ganzen (Tao), friedlich lebt. Man könnte vielleicht sagen, die frühesten Texte des Taoismus beschreiben den Prozess, den man in Europa „Sündenfall" nennt. Die Bewußtwerdung, das Wissen, die Ordnungen, die Gewinnsucht, die Denaturierung setzten ein. Der Begriff der vormaligen Einheit des Lebens (Paradies würden wir sagen) wird entworfen. All das, was man damit romantisierend benennt, scheint sich stets nur im Strom des Verlustes zu befinden. Das Trauma der Trennung vom Urgrund, vom alten Wissen (="Nichtwissen") geht über in den bis heute anhaltenden Traum vom guten Leben, welches als ein Gewesenes beschrieben wird.

 

Dieses in die Vergangenheit verlegte, gute Leben wird heute mehr denn je mit einer Traumkonstruktion verknüpft, die allein auf materielle Vorstellungen sich gründet: Erst wenn man viel Geld besitzt, sich sozusagen an den Reichtümern der Natur vergriffen und diese zerstört, und durch des Volkes Fleiß sich seine Millionen verschafft hat, ist man in der Lage, jene eingebildete Harmonie nachzubauen. Aber eben nur als Kopie, in Form von Konsumidolen, überbordenden, abgesicherten Häusern, kitschgrünen und artifiziellen Parkanlagen, Teichen, Wellnessanlagen und Luxusressorts. Und so war es wohl auch schon im alten China: Diejenigen, die malen, lesen, meditieren und die Natur betrachten konnten, das waren zumeist die wohlhabenden Schichten der Fürsten und der Gelehrten-Beamten, denen die Freiheit vergönnt war, der Betrachtung der edlen Sitten, der himmlischen Weisheit und der Harmonien sich zu widmen.

  

 

Was mich beieindruckt hat, ist das Von-selbst-Aufscheinen dieser „Landschaften", dieser „Harmonien", dieser Sinnbilder des Paradieses in den Schluchten und Gassen der neuen chinesischen Welt, wo all das ausgetilgt scheint: In der endlosen Stadt, in der man nichts mehr von jener Landschaft erblicken kann, selbst dann nicht, wenn der verschmutzte Himmel in windigen Tagen einmal aufreißt und den Blick zu den Westbergen freigibt. Es ist die unvermittelte, „von selbst" sich ereignende, aus einer nicht dem Willen ausgesetzten Tiefe hervorgehende Geste, aus der sich diese Bilder „offenbaren". Genau dies verbinde ich mit dem hohen Ideal des philosophischen Taoismus, der eben das Nicht-Handeln lobt, welches die Akzeptanz der natürlichen Vorgänge als Grundprämisse vorgibt. Ein Sehen dessen, was da ist. Dass sich dieses „Denken", diese Vorstellung gewissermaßen von selbst an den Oberflächen der Stadt darbietet, das war die plötzliche Überraschung für mich, und der Impuls für diese Arbeit.

 

 

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