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Gestohlene Herzen

In den von uns renovierten Schaukästen des ehemaligen Capitol-Kino (geschlossen 1996, letzter Film: “Gestohlene Herzen”) wurden drei in Neustadt (an)laufende Filme mit Plakaten und Standfotos angekündigt.

Die Schaukästen waren zwischen 18-23 Uhr beleuchtet, ebenso 2 Fenster am Kinoeingang. Die von Stephanie Kiwitt entworfenen Poster, die wir in diesen Schaukästen angeheftet hatten, orientieren sich an Gestaltungsmustern typischer Filmplakate. Titel und Geschichten sind anhand von uns in Neustadt aufgenommenem und gefundenem Bildmaterial aber frei erfunden.

Der neugierige Passant/Kinogänger, angelockt von wiedergenutzten Schaukästen, der Beleuchtung oder den Kinoanzeigen in der Lokalzeitung, merkt schnell, dass es keinen realen Kinobetrieb im Capitol gibt. Bei genauerem Hinsehen entdeckt er auf den Plakaten und Standfotos sein eigenes Umfeld und möglicherweise bekannte Gesichter aus Neustadt.

 

Unsere Kinoplakate laden, genauso wie kommerzielle, mit ihrer Erscheinung in eine angeblich aufregendere und möglichkeitsreichere Welt ein. Sie zeigen jedoch Teile der eigenen Realwelt, der man sich für die Dauer des Filmes vielleicht entziehen wollte.

Die von uns inszenierten Orte und Personen auf den Plakaten scheinen Teil der Kinotraumwelt zu sein und gehören doch zum eigenen Leben vor Ort.

 

Bringt man seiner Stadt, seiner eigenen Erfahrungswelt, sich selbst gar, dieselbe Wertschätzung entgegen, die man sonst nur den Filmhelden und ihren perfekten Welten gegenüber aufbringt? Oder widersprechen die bunten Filmplakate im Schaukasten den wirklichen Eindrücken, dem gewöhnlichen Leben, sind es unzutreffende Erfindungen? In diese erfundene, überhöhte, scheinbar spannendere Welt hofft man als Kinogänger eintauchen zu können, um für kurze Zeit die eigene Realität auszublenden, sich mit einer anderen Welt und ihren Protagonisten zu verbinden, emotionale Berührung zu spüren – sich seinen Sehnsüchten hinzugeben.

 

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aus: Fred Walter: „Gestohlene Herzen“

von KLAUS EICHLER

 

Ich weiss es nicht, woran es liegt. Einmal hatte ich es unbedingt vor, denn ich las in dem Veranstaltungsteil der Zeitung davon. Irgendetwas kam dazwischen. Ach ja, die Hochzeit meiner Nichte. Ein andres Mal passierte ein Unglück mit dem Omnibus, so dass ich zu spät kam. Drei Schwerverletzte, ich sah wie in Zeitlupe es kommen und dann, wie es passierte. Ein drittes Mal kam ich zur rechten Zeit, hatte aber mein Geld vergessen. Und dann das Unglaubliche irgendwann: kam rechtzeitig, kein Unfall und keine Liebe war dazwischen, hatte Geld und blieb dennoch draussen. Ich weiss nicht, woran es liegt. Ich ging einfach nicht rein. Stattdessen blieb ich an den Fotogrammen des Filmes in den Schaukästen des wiedereröffneten “Capitol” hängen. Irgendetwas hielt mich zurück. Vielleicht war es die Luft des kommenden Frühlings, vielleicht das Bild der aufglühenden Natriumlampen auf dem Vorplatz, die sich gegen den blau werdenden Abendhimmel kontrastierten: ein Wechsel zwischen Kultur und Natur, den man im Film als “Magic Hour” bezeichnet.

 

Ich kann mich noch an die Zeiten erinnern, als ich jeden Sonnabend reinging. Das ist lange her. Ich erinnere mich genau an “Vom Winde verweht”. Ich erinnere mich daran mehr als an meine Schulabschlussfeier oder sonst ein Ereignis meiner Jugend. Arm-in-Arm gingen wir damals aus der Grotte des nächtlichen Lichtspiels, vorbei an der Büste Platons, die dort, rechts an der Biegung, in der Ecke im Dunkel, stand, wo man auf dem verwinkelten Weg an der gläsernen Kasse vorbei, an der auch Weingummis angeboten wurden und sonstige Dinge, gingen wir mit der schweigenden Menge – einer lockeren Prozession gleich – in eine andere Welt. Als wir raus kamen, es war Herbst, flog mir sofort der Hut weg, und ich erinnere mich, dass Du schnell nach Hause wolltest, weil Du irgendwie unruhig warst und ständig von der Ahnung eines Feuers sprachst. Vielleicht hattest Du vergessen, den Herd abzuschalten, was Du im Moment in den Sinn bekamst. Ich weiss nicht, was Dein Grund war.

 

Als ich jetzt wieder an den Schaukästen stand, geschah ein Wunder: die Zeit von “Scarlet” und Dir und mir und dem Heute schien eins zu sein, kein Tag schien vergangen. Nicht die grösser gewordenen Bäume gegenüber dem Kinogebäude, auch nicht die erneuerten Lampen am Vorplatz und das neue Strassenpflaster hielten mich von der Gewissheit ab, dass “damals” und “heute” zu einem einzigen Zeitpunkt gehörten. Statt Bilder eines Südstaatenepos sah ich nun aber – wachte oder träumte ich ? – Fotogramme, also Bilder aus einem Film, der genausogut in unserer Stadt gedreht sein könnte. Als ich genauer hinschaute, war da tatsächlich mein Nachbar zu sehen, die Blumenfrau aus der Kapuzinergasse, und der Maler, dem wegen seiner Alkoholsucht die Frau weglief und von dem jetzt die ganze Kleinstadt spricht. Ich kenne ihn sehr gut, und ich weiss, wie sehr er leidet unter der Gewissheit, dass er der Frau Unrecht tat, dem Ausdruck seiner Wahrheiten, die er fand und die er auf der Leinwand entfaltete, aber nicht ausweichen konnte.

 

Es konnte nicht anders sein: Ich träumte, denn wo gibt es so etwas, was ich in der Kinoauslage fand. Das erklärt auch, weshalb es nicht funktionieren konnte, doch wieder eine Vorstellung anzusehen, weshalb so viel dazwischen kommen musste. “Hochzeit”, “Unfall”, “Geld vergessen”. Ich konnte einfach aus meinem realen Traum nicht raus – konnte nicht hinein in die Wirklichkeit der Vorstellung. Du hast Dich ja nun nicht für mich entschieden, aber wärst Du hier dabeigewesen, hätten wir das Unglaubliche geschafft, hätten wir zwischen unseren Köpfen den Film abgespult, der nur unsere wäre. Wir wären reingekommen in den Geheimnissaal der Nacht, der vor und hinter der Kasse liegt, keiner weiss doch genau: wo.

 

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Urbane Projektionsräume

von ALEXANDER KOCH

in: Der Sprung im Wasserglas, Alexander Koch, Ulrike Kremeier (Hrsg.), revolver, 2004

 

Die ostdeutschen Provinzstandorte - Kleinstädte und Dörfer, denen laut neuen Statistiken eine Zukunft als welke Landschaft bevorsteht - driften immer weiter ins soziale und ökonomische Aus und dabei politisch an den rechten Rand. Wenn dann im thüringischen Neustadt an der Orla ein Kunstprojekt im öffentlichen Raum die "Demokratie als Prozess" sucht, dürfen wir gespannt sein, was sich findet. Bertram Haude, Stephanie Kiwitt und Jens Volz haben die soziale Stimmungslage und die täglichen Sehnsüchte der Neustädter in ihrem Projekt "Gestohlene Herzen" abgebildet. "gestohlene Herzen" war der Titel des letzten Films, den das 1996 geschlossene Kino Capitol in Neustadt gezeigt hatte. Stephanie Kiwitt inszenierte mit den Bewohnern der Kleinstadt vor örtlicher Kulisse "Filmszenen", die - z.T. mit Bildmaterial aus dem Stadtarchiv kombiniert - als Plakate und Filmstills in den reaktivierten Schaukästen des Capitols eine Wiederbelebung des Kinos suggerierten. Diese blieb freilich aus. Mit den von 18 bis 23 Uhr beleuchteten Vitrinen wurde stattdessen auf den halböffentlichen Raum eines kollektiven Projektionsgeschehens verwiesen, dass sich täglich millionenfach vor den Kinoplakaten der Welt vollzieht (und an dem nun auch wieder die Orlaer Neustädter teilhaben können). Indem reale Akteure in ihrem ereignisarmen und im Gegensatz zur Kinowelt immer weiter verödenden Lebensumfeld mit der Ikonografie und den Narrationsfolien des typischen B-Serien-Kitsches überblendet werden, werden lokale Erzählungen über den Fiktionalisierungsumweg global gleichschaltbarer Stories zugänglich gemacht. Dabei spiegelt sich jeweils das eine Prinzip in das andere: die hinlänglich bekannten filmischen Produktionen des Mainstreamkinos werden als schlecht versteckte Projektionen einer global tonangebenden, intellektuellen und mentalen Kleinstädtertümelei lesbar; gleichzeitig wird die Frage gestellt, in wie weit soziale, mitteleuropäische Wirklichkeit nicht bereits in billigen Allerweltsillusionen gründet und Drehbücher aus Los Angeles in Lebenspraxis umsetzt.

 

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