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the hidden god of fulfilment

Die Exkulturation des Religiösen geschieht, wenn die religiöse Norm, die religiöse Praxis und Heilskraft von der Kultur abgelöst werden (Roy). Zumeist bleiben ästhetische Formen zurück, die der Verwertung durch Unterhaltung, Marketing und Identifikationsproduktion verfallen. Aber nicht das Religiöse an sich ist exkulturiert, wie man weithin glaubt, sondern das tradierte Verständnis religiöser Praxis. Aufklärungsbemühungen haben mit der einfachen Negation des Metaphysischen nur abgelenkt, und schließlich scheint das kapitalistische Prinzip der große Parasit des Christentums zu sein.

 

Daß es sich um einen allgemeinen Götzendienst handelt, in den wir alltäglich, gerade auch über den „Bilderdienst“ welcher das Unterbewußte anspricht, so vollständig und unbedacht einbezogen sind, genau das erläutert Benjamin am Ende seines Fragmentes über den Kapitalismus: Es trägt zur Erkenntnis des Kapitalismus als Religion bei, sich zu vergegenwärtigen, daß das ursprüngliche Heidentum die Religion nicht als ein höheres Interesse, sondern als das unmittelbarste praktische gefaßt hat, daß es sich ebensowenig wie der heutige Kapitalismus über seine transzendente Natur im Klaren gewesen ist (Benjamin).

Der Gott der kapitalistischen Praxis, sagt Benjamin, muss dabei solange verheimlicht werden, bis der Zenith der Verschuldung erreicht ist.

Warum? Und wer ist dieser Gott? Tritt er als Wert, Geld, Kapital zutage? - als ein Fetischprinzip, welches in Form eines transzendenten Gottes zwar abgeschafft, nun aber immanent, im kapitalistisch-gesellschaftlichen Prozess, wahrhaftig zu sich selbst gekommen ist (Ulrich)?

 

Dieses Reich der immanenten Gottheit ist mitten unter uns. Sein rituelles Prinzip ist der Dauerkult und die Verschuldung. Eine Erlösungsfunktion ist nicht vorgesehen, eine Reformation ausgeschlossen. Und doch wird die kapitalistische Praxis mit ihrer Hoffnung auf weltimmanentes Glück gerade durch diese Hoffnung wieder transzendent. Die allgemeine Erkenntnis dieser Gottheit, die sich durch das Wunder des Mehrwertes auszeichnet, und die Offenbarung der uneinlösbaren Schulden, werden mit dem totalen Ruin in eins fallen. Bis dahin wird alles verlegt in jene, letztlich sprengende, diskontinuierliche Steigerung (Benjamin).

Die Figur der permanenten Selbsterhöhung, der sagenhafte Schmied des eigenen Glückes, ist der durch den Himmel durchgewachsne, historische Mensch (Benjamin). Doch auch dort, im Kosmos der angeeigneten Selbst-Erfüllung, kann er das versprochene, erhoffte Glück nicht finden, noch irgendeinen HelferGott, noch sich selbst.

 

 

Als Aristide Boucicaut 1852 in Paris neuer Teilhaber der Warenhandlung Bon Marché wurde, war diese noch ein kleiner, unbedeutender Betrieb. Zwanzig Jahre später hatte der Einzelhandelspionier daraus das größte Kaufhaus der Welt gemacht, eine „Kathedrale des Kommerzes“, wie Emile Zola die Einkaufswelt schon damals nannte. Kennzeichen dieser Anlagen sind überwältigende, tempelähnliche Baukörper, prächtige Fassaden, Hallen und Innenarchitekturen, große Lichthöfe, aufwändige Illuminationen, schreinartige Interieurs, verzaubernde Sound- und Wasserinstallationen. Diese Wunscherfüllungsapparate übernehmen, wie einst sakrale Bauten, das Zentrum der Gesellschaft und der Städte und werden ebenso zu Wahrzeichen. Sie erheben, mit einem Zuschnitt konsumförmiger Bedürfnisbefriedigung, erschöpfenden Anspruch auf die Zeit und die unstillbaren Wünsche der Kundschaft. Sie sind die sichtbarsten Heiligtümer eines universalen Kultes, welcher sich im Warenrausch auskristallisiert. Die vor Begehrlichkeit rücksichtslose Masse (Zola) drängt sich dort zur Einlösung des Opfers zusammen, das sich offenbar von selbst versteht.

In diesen Räumen funktionieren Brunnen, die sich vielerorts zentral in den Shoppingwelten befinden, als sakral aufgeschäumte Sinnbilder des Paradieses: Ein Strom kommt aus Eden, den Garten zu bewässern (Genesis 2,10).

 

Das Video THE HIDDEN GOD OF FULFILMENT gibt einen Blick frei, der von der Mitte der Glaskuppel im Lichthof eines Kaufhauses senkrecht nach unten auf den Brunnen, das leere Zentrum eines zeitgenössischen Kultplatzes fällt. Diese „göttliche“ Perspektive vom Himmel hinab ist für Besucher und Personal uneinnehmbar. Die Einstellung zeigt in kurzen Abständen die stündlich zu bewundernde Fontaine, eine orakelartige Wunderquelle. Ein dramatisch-kitschiger Sound rundet das Mysterienfest ab. 

Der profane Raum des Warenerwerbs wird durch und durch sakralisiert. Die Durchdringung aller Felder menschlichen Handelns und Denkens, nicht nur politischer oder gesellschaftlicher, sondern auch die der Kultur, des Sozialen, ja beinahe auch dem der Liebe, dies alles von Debord trefflich als totales Spektakel bezeichnet, erlaubt keinen freien Zugang mehr zu dem, was mit uns geschehen ist und geschieht. 

Das Spektakel ist der materielle Wiederaufbau der religiösen Illusion (Debord). 


Der Kapitalismus ist die Zelebrierung eines Kultes sans (t)rêve et sans merci - ohne Rast und ohne Gnade. Es gibt da keinen Wochentag, keinen Tag, der nicht Festtag in dem fürchterlichen Sinne der Entfaltung allen sakralen Pompes, der äußersten Anspannung des Verehrenden wäre, schrieb Walter Benjamin 1921 in seinem Fragment gebliebenen Text. Der Warenhausarchitektur ist jener religiöse Kult eingeschrieben, als welcher der Kapitalismus, wenn man ihn umfassend analysieren will, begriffen werden muss.

Seine Inkulturation geschieht als religiöse Norm.

 

 

Walter Benjamin, Kapitalismus als Religion, 1921, in: Gesammelte Schriften, 1985

Olivier Roy, La Sainte Ignorance, 2008 (dt.: Heilige Einfalt, 2010)

Jörg Ulrich, Gott in Gesellschaft der Gesellschaft, 2005

Emile Zola, Au bonheur des dames, 1883 (dt: Das Paradies der Damen, 2004)

Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels (1967) Edition Tiamat, 1996

 

 

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