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gerade bleiben

Das Fermatsche Prinzip des kürzesten Lichtweges besagt, dass ein Lichtstrahl stets denjenigen Weg nimmt, auf dem er die Strecke von seinem Anfangspunkt zu seinem Endpunkt in der kürzest möglichen Zeit zurücklegt. Die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist die Gerade. Bricht sich aber ein schräg auf Wasser treffender Lichtstrahl, so nimmt er im Wasser einen steileren Weg, verursacht durch die geringere Lichtgeschwindigkeit im Wasser. Die Streckenlänge des zurückgelegten Weges ist hierbei aber größer als die Strecke, die entstehen würde, wenn Lichtquelle und Endpunkt des Lichtstrahls geradlinig verbunden würden. Diese geometrisch kürzeste Strecke ist dabei aber nicht diejenige, welche auch in der kürzesten Zeit zurückgelegt wird. Das Licht braucht weniger Zeit, wenn es in der Luft eine längere Strecke schnell durchläuft und sich dann langsamer aber steiler im Wasser fortsetzt.

 

Analog dazu könnte unsere Bewegung im geografischen Raum beschrieben werden.

Auch unsere Bewegung im Raum findet nicht der Strecke, sondern der Punkte wegen statt, deren Erreichbarkeit in Zeit angegeben wird. Längere geebnete Wege werden natürlich immer der kürzeren, wenn beschwerlicheren Strecke vorgezogen, weichen so den Hindernissen aus. Trotz längerer Strecke ist die Zeitersparnis unverhältnismäßig größer. Mit der Benutzung von Verkehrsmitteln können auf diese Weise Hindernisse, d.h. Gegebenheiten/Gegenstände bis zur Unkenntlichkeit entrücken.

 

Mit der Aktion "gerade bleiben" wurde dieses Prinzip umgedreht. Wenn der Raum in kürzester Strecke durchmessen werden soll, dann ist er so am stärksten präsent: Anstatt durch große Strecke, sowie Vernachlässigung des Raumes, Zeit zu sparen, wird durch kürzeste Strecke, und Vernachlässigung der Zeit, Raum "gewonnen".

 

Joachimsthal als Ausgangspunkt der Aktion war Endpunkt einer vormals begangenen Strecke. Unsere Linie schnitt fast ausschließlich kultiviertes Land, dabei war es ein Gang durch Wälder, über Wiesen und durch Seen und Bäche. Wir trafen auf umgekehrte Weise auf unsere Kultur, welche sich überall niederschlägt, d.h. wir erkundeten den durch menschliche Anwesenheit gestalteten Raum. Unsere Durchkreuzung der vorgegebenen Ordnung offenbarte diese in besonderer Weise. Dabei wollten wir auch die Durchlässigkeit privater Grundstücke erproben.

 

Ein solches Unternehmen zeigt auf eine Grundbedingung der menschlichen Existenz: die der sinnlichen Erfahrung als ein Körperwesen. Immer wieder stellte sich die Frage: Warum setzen wir unsere Körper den Widrigkeiten aus, von denen man sich jahrtausendelang zu entledigen hoffte? Von Bacons Proklamation des neuen Zeitalters, welches die materielle Erlösung bringen sollte, bis zur nunmehr fortgeschrittenen Einlösung dessen im 20. Jahrhundert, zeichnet sich eine Tendenz ab, die zwar faszinierende Unabhängigkeit, zugleich aber körperlichen Mangel erzeugt, der sich in kuriosen Freizeitbeschäftigungen niederschlägt.

Heute zerschneiden Zugstrecken, Straßen und Kanäle die Landschaft. Sie durchbrechen in geraden Fluchten Wiesen, Wälder, Flüsse, Seen, Berge und Täler: niemand weiß mehr, was das Durchreiste eigentlich ist. Mit der Benutzung von Verkehrsmitteln entrückt der Außenraum bis zur Unkenntlichkeit.

„Schiene und Eisenbahn sowie Asphalt und Auto schieben sich in der Reise zwischen Mensch und Erdboden, trennen die Sinne vom Vorgang des Reisens und heben die Füße der Reisenden endgültig vom Erdboden ab. Das Reisen in modernen Fahrzeugen ist eine Mobilität, die festsitzt.“ (Hajo Eickhoff: Welt erfahren, in: Kunstforum Bd 136, S. 108). Schon längst führen wir beim Reisen keine Bewegungen mehr aus. Zwischen Ein- und Aussteigen: Sitzen und Warten; es gibt keinen Raum, nur noch Zeit. Der Raum zwischen den Orten ist unser Gegner.

 

Die heutigen Technologien könnten das Reisen eigentlich überflüssig machen. Informationsaufnahme bzw. -weitergabe schien an Orte gebunden, diese nahmen Räume ein, Raum konstituierte unsere Bewegung in ihm. Die Gewinnung von Informationen durch die Erfahrung der Phänomene im Außenraum wird durch andere ersetzt. Sie bilden eine zweite Ebene, welche als Welt II scheinbar genauso erfahrungsbildend wirkt wie ihre Vorgängerin. Eine Loslösung von der direkten Erfahrung würde freilich die natürliche Welt von unserem jetzigen Erlebnishunger etwas befreien. Doch solange der Körper da ist, bleibt seine Lust. Der Körper wehrt sich gegen seine Verdrängung, er will sich sättigen, Atem holen, sich berauschen und erleben.

 

Manchmal schaue ich gedankenlos aus dem Zug: Ich schnelle durch die Welt. Im Auto empfinde ich als Mitreisender das gleiche meditative Gefühl: das des Sehnens, jenes, welches über das bloße Existieren hinaus will. Die Sehnsucht, etwas zu finden, was nicht verortet werden kann. Ein zeitloses, tranceartiges „Zielwollen“, das jedoch gerade ohne Zielort, ohne Zielzustand, bleiben muß. Daher diese Obsession des Unterwegs-Seins um seiner selbst willen.

 

Ich kannte Menschen, die 50 km vom Meer entfernt lebten und es noch nie gesehen hatten, und die es nicht einmal sehen wollten. Das Glück schien auf ihrer Seite zu sein – Reisen und Geschwindigkeit als Ausdruck einer Flüchtigkeit aus dem Irgendwo-, aus dem Hier-seinmüssen? Reiseziele wären dann nur Ersatzziele einer unstillbaren Unruhe. Oft sind ja die Ziele tatsächlich nichts Anderes als das, was man schon kennt oder das, was man zu erleben wünscht, weil alles schon vorgestellt, beschrieben und abgebildet war. Hier wird der Ortswechsel zur Farce, und es bleibt nur noch die Geschwindigkeit übrig.

 

 

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