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Performance für Kaufhaus JOSKE

DAS EHEMALIGE KAUFHAUS JOSKE IN LEIPZIG - PLAGWITZ  

(Karl-Heine-Str. 43 / Ecke Walter Heinze Str.)

 

Das Kaufhaus JOSKE in Leipzig-Plagwitz war das erste seiner Art im Stadtviertel (Eröffnung 1904). 
Die jüdische Kaufmannsfamilie Joske, welche zwei Warenhäuser in Leipzig besaß,

wurde 1933/34 in den Boykott getrieben.

Durch Zwangsliquidation wurden ihr selbst die Mittel für eine Ausreise entzogen.

Nur einige wenige Mitglieder der Familie konnten den sich anschließenden faschistischen Vernichtungsoperationen entgehen.

 

Die architektonisch bemerkenswerte Warenverkaufshalle von Wilhelm Haller (erbaut 1929) 

befindet sich hinter den Vorderhäusern und ist als solche (seit den 60´er Jahren im Besitz einer Autoteilefirma) nicht mehr erkennbar. Die heutige Fassade der Vorderhäuser (Wohnhäuser) 

läßt nur winzige Spuren der einstigen Nutzung erkennen.

 

2008, nach umfangreicher Recherchearbeit, öffnete eine im Vorderhaus lebende Künstlergruppe

den Hof des ehemaligen Kaufhauses für kulturelle Veranstaltungen und künstlerische Performances.

(siehe link in nebenstehender Spalte)

 

 

 

"PERFORMANCE" (INSZENIERUNG) AM 23. SEPTEMBER 2010 

 

Für die angekündigte "Performance" öffnete das ehemalige Kaufhaus JOSKE für einen Abend seine Türen erneut für das Publikum / die Kundschaft. Ein Mitarbeiter des Hauses, in Anzug,  begrüßte die eintretenden Kunden. Im Durchgang und im Hof war übliche Kaufhausbeschallung (ohne Werbung) in der üblichen Lautstärke zu hören (Originalband Karstadt-Kaufhaus). Im hinteren Teil war die Außenfassade der Kaufhaushalle mit farbigem Licht angestrahlt und erhielt ein theatrales, kulissenhaftes Aussehen. Pulsierender Sound einer Springbrunnenanlage war zu hören (Originalsound Karstadt-Kaufhaus Springbrunnen). Beim Verlassen des Kaufhauses verabschiedete sich der Mitarbeiter und überreichte eine leere Einkaufstüte des Kaufhaus JOSKE.

 

Eine vom Publikum erwartete Performance, eine "Aufführung", eine unterhaltsame, interessante, bizzare oder anders geartete "Darbietung" fand als solche nicht statt. Die Übergabe der leeren Tüte beim Verlassen, verlagert jenen mehrschichtigen Diskurs, welcher sich an diesem Ort öffnen läßt, nach außen und erklärte zugleich die gesamte Situation zur Performance:

Die geschichtlichen Ereignisse, welche sich hier und in vielen Ländern Europas abgespielt haben, die Diffamierung, Ruinierung, und Ermordung der jüdischen Bevölkerung, mahnen an, den Ort zu einem der Erinnerung zu machen und die Fragen nach den Ursprüngen als auch nach den heutigen Konstellationen offen zu halten. 

Die meisten der heute noch bestehenden Kaufhäuser sind von jüdischen Familien gegründet und betrieben wurden. Karstadt ist gerade erst wieder in "jüdische Hand" übergegangen. 

In Anbetracht des noch immer kursierenden Gerüchtes von einer jüdischen Weltverschwörung und in Verbindung mit jener von der EU-Kommission durchgeführten Umfrage, die bescheinigt, dass die EU-Bürger Israel als die größte Gefahr für den Weltfrieden ansehen, vermischen sich auch die Reden über die Juden mit denen über Israel. Israelkritik und Antizionismus können sich kaum noch frei voneinander bewegen. Deshalb hat sich die EU auch von den Ergebnissen diese Umfrage distanziert - wie auch immer das möglich sein soll. Auf diesem Boden ist es dann auch nicht mehr ganz abwegig, über ideologisches Verhalten, somit auch über ein solches Kaufverhalten zu sprechen. Wer kauft ein bei den Israelwochen von Karstadt? Wer ruft gegen den Kauf von israelischen Waren auf? Vom Judenboykott bis hin zum Israelboykott gibt es Verbindungs- und Denkräume, die alles andere als zufällig sind.

Wer "kauft" also bei JOSKE, wer trägt die JOSKE-Tasche mit sich herum?

Geht es um Solidarität mit denen, die einst von uns eliminiert wurden, wenn wir Golan-Wein kaufen?

Oder um die Erlösung die, christlich gesehen, von den Juden kommt? Oder spielt das alles keine Rolle, sondern beruht auf jener immer schwierigen und doch vertieften Verbindung deutscher und jüdischer Menschen in den letzten 1500 Jahren?

An jener Haltung zum Judentum und zu Israel scheiden sich noch immer die Geister (Geister?).

 

Zum anderen, sind konsum-, waren- und kapitalismuskritische Fragen nicht zu umgehen, wenn man sich diesem Thema zuwendet, welches auch schon zu Zeiten des beginnenden Kaufhausbetriebes von einigen Wenigen kritisch untersucht wurde. Die Erkenntnis der prinzipiellen Warenfähigkeit und -förmigkeit aller Dinge und Beziehungen, so eben auch der Kunst, bildete sich mit dem Aufkommen jener Prozesse aus. Und damit entstand auch das Bewußtsein der Unfähigkeit, sich dazu in gebotene Distanz zu setzen - dem gegenüber noch kritikfähig zu sein.

Denn man selbst wurde und wird nahezu in all seinen Lebensverrichtungen, mehr unbewußt als bewußt in jene "Religion", wie Walter Benjamin behauptet, verwickelt.

In beide Felder sind wir nach wie vor einbezogen. So ungelöst das geschichtliche, so nahe auf den Leib geschnitten ist uns das kapitalistische.

"Kritik ist eine Sache des rechten Abstands. Sie ist in einer Welt zuhause, wo es auf Perspektiven und Prospekte ankommt und einen Standpunkt einzunehmen noch möglich war." konstatiert Walter Benjamin, welcher die entstehende Warenhauskultur zum Gegenstand eines seiner Hauptwerke gemacht hatte.

Mit der Betonung, die auf "noch" liegt, spricht er sich selbst und uns im Grunde alles ab.

Der Kritiker ist in seiner Kritik selbst enthalten - wenn es gut läuft - doch für das Kaufhaus und für die Kunst bedeutet das eben auch: Der "Flaneur ist kein Käufer, er ist (selbst) Ware".  

Und als solche warten wir im Zustand der scheinbar unauflösbaren Geschichte und im Zustand des Konsumismus, in der Politik, in der Geschichte und in der Kunst auf das nächste, kommende, vielleicht erlösende "Ereignis", auf das beste "Angebot", auf "die" Idee, auf die angekündigte "Performance".

 

 

(Zitate aus: Walter Benjamin, Einbahnstraße und Passagen-Werk)

 

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Zufälligerweise fiel der Tag der "Performance" auf den 23.10.2010, den ersten Tag von Sukkot, das jüdische Laubhüttenfest. Dieses Fest wird begangen zur Erinnerung an den Auszug aus Ägyptenland

(als Symbol für die Fremde, die Verfolgung und Demütigung fern der Heimat, das Verlorensein im Weltlichen), und die Wanderung durch die Wüste auf dem Weg ins gelobte Land. Die zu diesem Fest aufgebaute Laubhütte verdeutlicht die Instabilität weltlicher Verhältnisse, das schnell vorübergehende Dasein und die vergebliche Zuflucht in materielle Sicherheiten.

 

 

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