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AZ 31040090541920

Mit der Arbeit AZ 31040090541920 nehme ich 3 Positionen ein:

1. Pos. Bürger sein bedeutet, die Autorität von Gesetzen und die Regeln, in denen sie verkörpert sind, anzuerkennen, und das Handeln davon leiten zu lassen. Es ist die Sorge um das allgemeine Wohl (ethisch).

2. Pos. Individuum zu sein bedeutet, von sich und dem subjektiven Empfinden auszugehen, bedeutet selbst Maßstab zu sein. Es bedeutet die Sorge um sich selbst (also ein eher ästhetischer Entwurf)

Diese zwei Positionen sind als Reinformen nur abstrakt vorstellbar.

3. Pos. Stellvertreter oder Schauspieler zu sein bedeutet, eine Vorführung zu geben, oder ein Bild abzugeben, die oder das den problematischen Gehalt einer Lage symbolisch zum Thema nimmt (reflexiv).

 

Alle drei Positionen nehme ich bei der Arbeit Aktenzeichen 31040090541920 ein.

Ausgangspunkt dieser Arbeit ist die unversehens eingetretene, nicht provozierte Situation, auf die ich zuerst ungehalten reagierte, also aus Pos. 2 heraus.

Worum es aber nicht geht, ist trickreich mit allen möglichen Mitteln über das „System“ triumphieren zu wollen.

Eine private Lebenssituation habe ich zum Anlass einer prinzipiell aussichtslosen aber erfahrungsreichen Analyse und live-performance genommen.

 

Erst als ich mich, nach 2 Stellungnahmen, dem Prozess gegenüber lange Zeit unaufmerksam verhielt, begann ich, den weiterhin anhaltenden Prozess bemerkenswert zu finden und verfolgen zu wollen – Pos. 3.

 

Zur Befragung stehen 2 Standpunkte: die des Gesetzes und die, des unter dem Gesetz Stehenden.

Obwohl der unter dem Gesetz Stehende die Modalität der Bejahung gegenüber dem Gesetz aufbringt (Pos. 1), ist die Lage, gerade wegen ihrer völligen Bedeutungslosigkeit, geeignet, um über Gerechtigkeit, Gleichheit und Macht zu reflektieren. (Pos.3)

Das Verhalten des unter dem Gesetz Stehenden ist einem Dilemma ausgesetzt: entweder Beharren auf der völligen Unerheblichkeit und tatsächlichen Schadensfreiheit des Einzelfalls (Pos 2), oder die Hinnahme des gesellschaftlichen Vertrages, an welchem sich dann öffentliche Organe noch schadlos halten (Pos. 1).

 

Noch ein Blick von Pos. 3:

Das Gesellschaftsgebäude wird nur zusammengehalten von einem Machtpotential, dem nach wie vor entscheidenden Faktor für das Fortbestehen eines politischen Körpers. Dieses Machtpotential muss seiner Aufgabe aus Autoritätsgründen in jedem Fall nachkommen, auch dann, wenn der Einzelfall jenen Körper völlig unangetastet lässt. Aber: Macht ist nur solange vorhanden, als die Einzelnen diese Macht als sinnfällig erleben und daher anerkennen, sie also durch die Modalität der Bejahung erhalten. Das heisst, die Pflege des öffentlichen Raumes besteht in der stetigen Realisierung und Aktualisierung der potentiellen Macht,

die das Recht ausübt und Gerechtigkeit herstellen soll.

 

Einen interessanten Gedanken fand ich bei Agamben, der eine utopisch anmutende Idee vorstellt:

Er schreibt: „Einen Weg zur Gerechtigkeit zu bahnen hieße nicht Auslöschung, sondern Deaktivierung und Untätigkeit des Rechts also einen anderen Gebrauch vom Recht zu machen. Genau das, was die Gesetzeskraft – die das Recht in Gang hält- zu verhindern sucht.“

Es ginge dann nicht mehr um die Praxis des Rechts durch Gesetzeskraft, sondern um sein Studium, welches „die Pforte zur Gerechtigkeit“ sei, denn dann hörte Gesetz auf, ein zwingendes zu sein, wenn es, durch sein Studium, einen neuen Gebrauch erfahren würde. Das wäre ein Versuch zur Gerechtigkeit hin, noch nicht ihre Aufrichtung. Es ginge um ein Sehen auf das, was Gesetz und Recht eigentlich bewahren sollen. Ein Prozess, der nicht anzueignen wäre, ja der für das Recht selbst nicht mehr zugänglich sein würde.

 

Die Arbeit AZ 31040090541920 begreife ich als performance, die am Schnittpunkt Individuum / Öffentlichkeit stattfindet. Der Begriff des Öffentlichen beschreibt für mich jenen Raum, in dem "die Bewegung" stattfindet, und diese Bewegung, diese Möglichkeit des Anderen, des Aufpralls, ist das, was das Öffentliche zu dem macht was es ist oder sein sollte. Kunst kann auf den öffentlichen Raum nur referieren, herstellen, leben und nutzen muss ihn das Publikum. Kunst stellt bestenfalls symbolische Analysen (Selbstanalysen) her, ist insofern vom Realitätszwang entlastete Stellvertreterposition, und eben dadurch ein Bild. Kunst ist das stellvertretende Rätsel für das eigentliche Rätsel: das Publikum.

 

Michel de Certeau: (1980) „Die Fähigkeit, etwas glauben zu können, scheint im politischen Bereich überall im Rückgang.“ „Unter Glauben verstehe ich ... eine „Modalität“ der Bejahung und keinen Glaubensinhalt. ... Man bemühte sich, diese Kraft (Glaubenskraft) „einzufangen“, indem man sie von einem Ort auf einen anderen übertrug. Von heidnischen Gesellschaften auf das Christentum, dann in Richtung politische Monarchie und schließlich in Richtung der Institution der Republik, ... was für die jeweilige Ordnung brauchbar war, bekam den Wert einer „Überzeugung“

Die Mächte unserer entwickelten Gesellschaften verfügen über außerordentlich feine und lückenlose Methoden zur Überwachung aller gesellschaftlichen Netze. ... Aber ganz allmählich verlieren sie jegliche Glaubwürdigkeit. Sie verfügen über immer mehr Macht und über immer weniger glaubhafte Autorität. Die Techniker, machen sich darüber sehr oft überhaupt keine Gedanken, da sie vollauf damit beschäftigt sind, die Ordnungs- und Überwachungsdispositive zu erweitern und komplexer zu gestalten.

Eine trügerische Gewissheit. Denn die Verfeinerung der Disziplinierung ist kein Ausgleich für die Gleichgültigkeit der Leute. ... In den Behörden, in den Büros, in den politischen oder religiösen Organisationen schwindet mit der krebsartigen Entwicklung der Apparate die Fähigkeit, etwas zu bejahen, einen Glauben aufzubringen.“

 

Denn der Staatsapparat erzeugt schließlich eine Entgegensetzung von Staat und Gesellschaft, deren erstes Glied als Maschine fungiert, die dem Leben des zweiten ihre straffe Ordnung aufzwingt. Und doch – These - ist Glauben konstitutiv für Gesellschaft. Denn alle Imperative, oder sagen wir gleich: Beschwörungen, werden, ob im politischen oder im ökonomischen Bereich, nach wie vor auf ihre Weise mythologisch geladen. Was geschehen ist, ist die Übertragung des Glaubenspotentials vom Feld des Politischen auf den Kult des Marktes. Der Glaube an die Gemeinschaft, das Reich der Gerechtigkeit liegt gerade weitestgehend im Koma. Ebenso der, an die klassenlose Gesellschaft, oder jedweder sozialen Utopie.

Agamben spricht von einem "Gemeinwesen ohne Voraussetzungen und Staat, in dem die vernichtende und bestimmende Gewalt des Gemeinsamen befriedet ist." Sehen wir mit dieser Optik das Problem vielleicht ganz anders, sehen wir vielleicht einer Erlösung entgegen die eben ganz ohne Glauben sich einstellen könnte?

 

 

 

Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Merve, Berlin, 1988

Giorgio Agamben, Die kommende Gemeinschaft, Merve, Berlin, 2003

 

 

 

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